Zeitzeugen aus der NS-Zeit bei uns zu Gast
Sie werden nie vergessen, wie es klingt, wenn Bomben krachen, Sirenen heulen und Feuer sich in die Häuser frisst. Wenn die Gestapo an der Tür klopft und die Angst vor dem Entdeckt-Werden, vor dem Ende, immer gegenwärtig ist. Franz Michalski ist ein sogenannter Halbjude, der Krieg und Holocaust überlebt hat und der sein Leben auch den „stillen Helden“ verdankt, die ihn während der Nazidiktatur unterstützten. Der 84jährige Berliner und seine Frau Petra haben es sich zur Aufgabe gemacht, als Zeitzeugen ihre Erlebnisse in Schulen zu schildern. In der Wernecker Balthasar-Neumann-Mittelschule gestalteten sie für die Acht- und Zehntklässler eine ganz besondere Geschichtsstunde.
Aufmerksam sitzen die 14- bis 16jährigen Schüler in einem Klassenzimmer und verfolgen den Film, den die Michalskis mitgebracht haben und den sie mit weiteren, lebendig erzählten Geschichten ergänzen. Die vielen Lebensstationen inklusive der Flucht, die Franz Michalski als Junge mit und ohne seine Eltern bewältigen musste, werden in dem Film besucht und erläutert.
Der elegant gekleidete und sehr vitale Berliner überlässt weitgehend seiner eloquenten Frau die Erzählungen: Ein Schlaganfall hat ihm vor zehn Jahren einen Teil seiner Sprache genommen. „Ich bin heute sein Sprachrohr“, erklärt Petra Michalski. Ab und zu schreibt ihr Mann Stichwörter auf einen Zettel, um ihr zu deuten, wovon sie sprechen soll.
Und zu erzählen haben die beiden eine Menge, mehr als ein normales Leben füllen kann. Von Franz‘ Eltern Herbert und Lilli in Breslau, er Katholik, sie Jüdin. Bei der Heirat 1933 konvertierte die Mutter zwar zum Christentum, aber aufgrund der Nürnberger Rassegesetze 1935 galt sie dennoch als „Volljüdin“. Eine eigene Firma mit medizinischen und kosmetischen Produkten hatte der Vater Herbert in Görlitz aufgebaut, einige gute Jahre damit gearbeitet, die Mutter half im Büro mit. Ein Kindermädchen, Erna Scharf, kümmerte sich um den 1934 geborenen „Bubi“ Franz, wurde zur Vertrauten. Der Junge galt aber als „Halbjude“, wurde schon im katholischen Kindergarten deswegen gemobbt, durfte später auch nicht in eine staatliche Schule gehen.
Sein Gewerbe musste Vater Herbert 1938 abmelden, „die Nazis stänkerten überall gegen ihn, weil er mit einer Jüdin verheiratet war“, erklärt Petra Michalski. Bei der Firma Schwarzkopf wurde er angestellt, ihr blieb er sein ganzes Berufsleben lang verbunden, auch nach dem Krieg.
Nach dem November-Pogrom 1938 wollte die kleine Familie zwar nach England emigrieren. Aber Lillis Vater erhielt als Jude kein Visum, so dass alle in Deutschland blieben: Herbert in Görlitz, Lilli mit Franz in Breslau. Nach Kriegsbeginn musste der Vater Herbert 1940 zur Wehrmacht, für Lilli und ihren kleinen Sohn eine bittere Zeit. Mit ihrem „Judenstern“ auf der Kleidung wollte sie nicht mehr aus dem Haus gehen, erzählt ihre spätere Schwiegertochter. So dass der kleine Franz einkaufen geht. „Juden durften nur zwischen fünf und sechs Uhr einkaufen und oft war da nichts mehr da“. Die Geburt des kleinen Bruders Peter 1941 war ein Lichtblick im Leben der Familie.
Die Situation für die jüdische Bevölkerung wurde immer schlimmer. Lillis Vater wurde 1941 in ein Judenhaus zwangseinquartiert, er nahm sich dort das Leben. Seine Frau wurde deportiert und in Auschwitz ermordet.
Immer wieder warnte ein Freund des Vaters, der bei der Polizei arbeitete, die Familie vor einer Deportation. „Ihr müsst sofort untertauchen“, sagte er 1944. Denn am 17. Oktober, dem zehnten Geburtstag von Franz, sollten sie abgeholt werden. Als Lilli die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen anzündete, klopfte die Gestapo an der Haustür. Lilli floh durch den Hinterausgang mit den zwei Kindern zum Bahnhof, wo eine ehemalige Kollegin ihres Mannes, Gerda Mez, sie erwartete. Mit ihrer Hilfe gelangten sie per Zug durch Österreich an die jugoslawische Grenze, kamen dort unter.
Die Odyssee ging über viele Stationen, immer in Angst vor dem Entdeckt-Werden, immer verbunden mit dramatischen Erlebnissen für die Kinder. Etwa als der etwa zehnjährige Franz seine Mutter vor einem Selbstmord aus Verzweiflung bewahrte.
Es gab einige „Stille Helfer“, die entweder tatkräftig unterstützten oder die Familie nicht meldeten. Vier von ihnen wurden von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem zu „Gerechten unter den Völkern ernannt. Genau solche Sillen Helfer, für die es seit 2008 in Berlin eine Gedenkstätte gibt, waren und sind Ansporn für das Ehepaar, ihre Geschichte immer wieder zu erzählen. „Es geht darum, dass man Menschen in Not helfen muss“, sagt Petra Michalski, Mitmenschlichkeit zu zeigen.
Damit schloss sich der Bogen zum Beginn der besonderen Geschichtsstunde, die Lehrer Hermann Roppelt initiiert und mit Unterstützung der Schulleiterin Nicole Schmitt und Wernecks Bürgermeisterin Edeltraud Baumgartl organisiert hatte. Denn zu Beginn hatten die Schüler einen Film aus einem eigenen Musical-Projekt gesehen, in dem mit eindrücklichen Bildern, Geräuschen und Texten das Thema Flüchtlinge dargestellt wurde. Die Parallelen von heute zum damals, von heute brennenden Asylunterkünften zum damaligen Holocaust, wurden deutlich. „Die Schüler sollen Kompetenzen erlangen, extreme und radikale Bestrebungen zu erkennen, ihnen entgegen zu wirken und so zu handeln, dass ‚so etwas‘ nicht mehr geschieht“, ist der Wunsch des Lehrers und der Schule.